Wenn das Kiefergelenk aus dem Gleichgewicht gerät
Knacken beim Öffnen des Mundes, ziehende Schmerzen im Kiefergelenk oder eine eingeschränkte Mundöffnung – als das können Anzeichen einer CMD (Craniomandibulären Dysfunktion) oder eine Discusverlagerung im Kiefergelenk sein. Beides sind häufige, aber oft übersehene Ursachen für chronische Beschwerden im Kopf-, Nacken- und Gesichtsbereich.
In diesem Beitrag erfahren Sie,
- welche Ursachen CMD und Discusverlagerungen haben,
- welche Formen unterschieden werden,
- wie die Diagnose gestellt wird
- und welche Therapieformen heute helfen, das Gelenk wieder in Balance zu bringen.
Was bedeutet CMD und was ist eine Diskusverlagerung?
CMD steht für Craniomandibuläre Dysfunktion – eine Störung im Zusammenspiel von Kiefergelenk, Muskulatur und Zähnen. Sie entsteht, wenn Ober- und Unterkiefer nicht mehr harmonisch zueinander stehen oder die beteiligten Muskeln überlastet sind.
Das Kiefergelenk selbst besteht aus dem Gelenkköpfchen (Kondylus), der Gelenkpfanne (Fossa articularis) und einer Knorpelscheibe (Diskus), die als „Stoßdämper“ zwischen beiden Strukturen liegt. Wird dieser Diskus aus seiner physiologischen Position verschoben, spricht man von einer Diskusverlagerung – der häufigsten strukturellen Störung im Kiefergelenk.

Die häufigsten Ursachen für CMD und Diskusverlagerung
CMD entsteht fast nie durch eine einzelne Ursache, sondern durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren.
1. Muskuläre Fehlspannung und Stress
Chronischer Stress führt oft zu Zähneknirschen (Bruxismus) oder unbewusstem Pressen der Zähne. Die Kaumuskulatur verhärtet sich – der Discus wird nach vorne gezogen. Die Folge: Verspannungen, Kopfschmerzen, Kiefergelenkknacken
2. Zahn- und Bissfehlstellungen
Ein tiefer Biss, Kreuzbiss oder Frühkontakte stören die gleichmäßige Gelenkbewegung. Selbst minimale Abweichungen in der Okklusion können das Kiefergelenk aus der Balance bringen.
3. Haltungsprobleme und Wirbelsäule
Eine Fehlstatik der Halswirbelsäule, Altasblockaden oder Schulterverspannungen wirken sich direkt auf die Gelenkposition aus. Studien zeigen: Rund 70 % der Patient:innen mit HWS-Problemen weisen auch CMD-Zeichen auf.
4. Traumata und Mikrotraumata
Unfälle, Zahnbehandlungen, Intubationen oder extremes Gähnen können den Diskus verschieben. Langfristig wirken auch einseitiges Kauen oder permanentes Kaugummikauen belastend.
5. Hormonelle und entzündliche Faktoren
Besonders bei Frauen in hormonellen Umstellungsphasen ist das Bindegewebe empfindlicher: Der Diskus kann dadurch leichter verrutschen oder sich entzünden.
Formen der Diskusverlagerung
Je nach Richtung und Ausmaß unterscheidet man verschiedene Typen:
1. Anteriore Diskusverlagerung
Der Diskus liegt vor dem Kondylus – die häufigste Form. Typisch: Knacken beim Öffnen, Ziehen im Gelenk, muskuläre Verspannungen.
2. Anterior-mediale Diskusverlagerung
Der Diskus gleitet nach vorn und leicht zur Mitte (medial). Schmerzen häufig einseitig, asymmetrische Bewegung.
3. Anterior- laterale Diskusverlagerung
Der Diskus gleitet nach vorn und außen (lateral). Typisch: „springender“ Kiefer, Geräusch beim Öffnen.
4. Posteriore Diskusverlagerung
Sehr selten, meist nach Traumata oder Intubation: Symptome: Druckgefühl im Ohr, Schmerzen, eingeschränkte Öffnung.
Mit oder ohne Reposition – der entscheidende Unterschied
Eine der wichtigsten Unterscheidungen betrifft die Frage, ob sich der Diskus beim Öffnen wieder zurückbewegt oder nicht.
Diskusverlagerung mit Reposition
Der Diskus gleitet beim Öffnen wieder in seine physiologische Position zurück. Erkennbar am typischen „Knackgeräusch“, wenn der Kondylus wieder auf den Diskus spricht. Diese Form ist funktionell oft noch kompensierbar – sollte aber behandelt werden, bevor Reizungen chronisch werden.
Diskusverlagerung ohne Reposition
Hier bleibt der Diskus dauerhaft vor dem Kondylus liegen („closed lock“). Es gibt kein Knacken mehr, aber der Mund lässt sich nur eingeschränkt öffnen (<35mm). Unbehandelt drohen Entzündungen und degenerative Veränderungen.
Diskusadhäsion
Der Diskus ist mit den Gelenkflächen verklebt und nicht mehr beweglich. Die Mundöffnung ist oft stark eingeschränkt und meist gleich groß. Physiotherapie hilft nicht wirklich viel, um die Öffnung zu vergrößern.
Wie erkennt man eine Diskusverlagerung?
Typische Symptome:
- Knacken oder Reiben beim Öffnen
- Schmerzen im Kiefergelenk, beim Kauen oder Sprechen
- eingeschränkte Mundöffnung
- Druckgefühl im Ohr, Kopfschmerzen, Schwindel
- Gesichtsasymmetrie bei starker Fehlstellung
Eine klinische Funktionsanalyse und ggf. MRT liefern die sichere Diagnose.
Therapie: Von Entlastung bis Funktionskorrektur
Die Behandlung richtet sich nach Art und Schwere der Verlagerung. Meist ist eine Kombination aus Physiotherapie, Schienentherapie, kieferorthopädischer, MKG-chirurgischer und prothetischer Maßnahmen sinnvoll.
1. Physiotherapie und manuelle Therapie
Gezielte Mobilisationen lösen muskuläre Verspannungen und verbessern die Kondylenbewegung. Myofasziale Techniken, Dehnungen und Haltungstraining unterstützen die Gelenkentlastung.
2. Dekompressions- und Repositionsschienen
Schienen dienen zur Entlastung des Kiefergelenks und zur Rezentrierung des Diskus. Dekompressionsschienen oder sagittale Repositionsschienen führen den Kondylus leicht nach unten vorne, sodass sich der Diskus wieder einordnen kann.
3. Kieferorthopädische Behandlung
Bei Fehlbisslagen kann eine Schienen- oder Alignertherapie helfen, den Biss langfristig zu stabilisieren. Aliger (z.B.Invisalign) ermöglichen gleichzeitig eine funktionelle und ästhetische Korrektur.
4. Prothetische Bisshebung
Wenn die vertikale Dimension abgesunken ist, kann sie prothetisch wiederhergestellt werden – z.B. mit Tabletops, Onlays oder Kronen. Dadurch verbessert sich die Gelenkposition und die Belastung verteilt sich gleichmäßig.
5. Begleitende Maßnahmen
- Wärmetherapie, Low-Level-Laser, Ultraschall
- Entspannungsübungen, Biofeedback, Atemtherapie
- Akupunktur
- Botox
- entzündungshemmende Kurzzeittherapie
- Kältekammern, InfraRot Therapie
Ganzheitlicher Ansatz für eine nachhaltige Heilung
CMD und Diskusverlagerung sind selten reine Gelenkprobleme. Eine erfolgreiche Therapie berücksichtigt auch Stress, Haltung, Atmung und Schlaf. Nur wenn Muskulatur, Biss und Körperhaltung wieder harmonisieren, kann das Kiefergelenk langfristig schmerzfrei funktionieren.
Fazit:
Eine Diskusverlagerung ist kein Schicksal – sie ist ein Signal, dass im System etwas aus der Balance geraten ist. Mit moderner Diagnostik, interdisziplinärer Therapie und gezielter Funktionsanalyse lassen sich Kiefergelenkprobleme heute sehr erfolgreich behandeln.
Medizinisch geprüft von Dr. Angelika Frankenberger, Fachzahnärztin für Kieferorthopädie, Frankfurt


